Was ist Religionswissenschaft?
Die Religionswissenschaft ist keine theologische, sondern eine kulturwissenschaftlich-anthropologische Disziplin. Sie ist nicht an ein bestimmtes Bekenntnis oder eine spezielle Religion gebunden. Sie ist aber auch keine Religion für Religionslose. Vielmehr versucht sie aus einer methodischen Distanz heraus die Vielfalt der Religionen und die in ihr auftauchenden Phänomene historisch-kritisch und empirisch-deskriptiv zu erforschen. Aufgrund dessen, dass die Gegenwart in jüngerer Zeit verstärkt in den Fokus der Forschung geraten ist, bedient sie sich mit quantitativen und qualitativen Analysen auch sehr stark sozialwissenschaftlicher Methoden. Sie durchdringt die Religionen nicht aus der Innenperspektive, sondern aus der Außenperspektive. Dabei ist sie sich bewusst, dass ein völlig "neutraler" bzw. "objektiver" Standpunkt nicht möglich ist. Die Reflexion des Einflusses der eigenen Prägungen und Voraussetzungen auf die Forschungsarbeit wie auch die Kooperation mit Kolleginnen und Kollegen, die kulturell und religiös anders geprägt sind, gehört daher unabdingbar zum religionswissenschaftlichen Arbeiten hinzu.
Gegenstand der Religionswissenschaft ist nicht eine bestimmte Religion, sondern im Prinzip die Gesamtheit der Religionen und religiösen Phänomene. Religionswissenschaftler setzen jedoch meist gewisse Schwerpunkte, da sie sich nicht in gleicher Intensität allen Religionen widmen können. Was Religion ist, wird nicht a priori bestimmt, sondern ist auf Grund des empirischen Materials immer wieder neu zu eruieren. Ausgangspunkt sind dabei theologische, philosophische und in der Gesellschaft kursierende Definitionen von Religion, die der Religion einen autonomen Bereich zuschreiben. Die Religionswissenschaft ist insoweit auf die Zusammenarbeit und Beschäftigung mit der Theologie und Religionsphilosophie angewiesen. Religionswissenschaft, die an einer Evangelisch-Theologischen Fakultät angesiedelt ist, sieht ihre besondere Aufgabe darin, sachliche Kenntnisse über nichtchristliche Religionen und christliche Konfessionen in anderem kulturellen Kontext Studentinnen und Studenten der Evangelischen Theologie zu vermitteln und in den interdisziplinären Austausch mit Kolleginnen und Kollegen an der Fakultät einzubringen.
Die Religionswissenschaft steht jedoch in keinem Dienstverhältnis zur Theologie oder Philosophie in dem Sinne, dass sie theologische oder philosophische Thesen zu bestätigen oder zu widerlegen hätte. Sie entwirft auch keine "Theologie der Religionen" oder versucht zwischen Religionen zu harmonisieren oder zu polarisieren. Sie kann jedoch zu bestimmten Fragestellungen ihre Expertise verschiedenen Religionsgemeinschaften, gesellschaftlichen oder politischen Institutionen unter Wahrung ihrer wissenschaftlichen Freiheit zur Verfügung stellen. Insoweit kann sie beitragen, sachliche Informationen über Religionsgemeinschaften an Interessierte jeder Fachrichtung zu vermitteln und Orientierungshilfen zur Einschätzung von Ereignissen und Phänomenen in ihnen zu geben. Die Religionswissenschaft fungiert von daher als Schnittstelle zu andren nicht-theologischen Wissenschaften.
Das Anliegen der Religionswissenschaft ist nicht die Beurteilung von letzten Wahrheiten, die Religionen beanspruchen, sondern die Wahrhaftigkeit bei der Darstellung verschiedener Religionen. Sie weist auf Übereinstimmungen und Konvergenzen ebenso hin wie auf Unterschiede und kategoriale Differenzen. Sie achtet ebenso auf verzerrende Darstellungen, Stereotypen und Klischees wie auf Vereinnahmungen und vorschnelle Harmonisierungen. Bei der Kritik von Religionen hält sie sich zurück, allerdings kann sie religiöse Entwicklungen in Frage stellen, sofern diese von bisherigen Traditionssträngen derselben Religion abweicht bzw. ihren eigenen Ansprüchen und Lehren nicht entspricht (religionsinterne Kritik).
Wie entwickelte sich die Disziplin?
Wie entwickelte sich die Disziplin?
Als Begründer der Religionswissenschaft gilt Friedrich Max Müller (1823-1900). Er konzipierte die Religionswissenschaft in Analogie zur Vergleichenden Sprachwissenschaft als philologisch-historische Disziplin, die sich mit den Primärquellen der Religionen beschäftigt und sie miteinander vergleicht. Gegen Ende des 19. Jh. wurden die ersten Lehrstühle für Religionswissenschaft in Europa begründet. Die Lehrstühle wurden teils an philosophischen, teils an theologischen Fakultäten angesiedelt. Dies ist auch heute noch der Fall (vgl. Liste der Lehrstühle, Institute und Seminare für Religionswissenschaft im deutschsprachigen Raum).
Wesentliche Impulse erhielt die Religionswissenschaft durch die religionsethnologischen Forscher Edward Burnett Tylor (1832-1917), James George Frazer (1854-1941) und Bronislaw Malinowsky (1884-1942) u. a., die ähnlich wie die Begründer der Religionssoziologie Émile Durkheim (1858-1917) und Max Weber (1864-1920) die Funktion der Religion(en) in der Gesellschaft ergründeten und den Weg der Religionswissenschaft zu einer kulturwissenschaftlich-anthropologischen Wissenschaft ebneten.
Joachim Wach (1898-1955) forderte 1924 in seiner Habilitationsschrift die Emanzipation der Religionswissenschaft von den "Mutterwissenschaften" (Religions-) Philosophie, Philologie, Religionsgeschichte, Theologie und Ethnologie und begründete ihre Eigenständigkeit als empirisch-deskriptive, nicht normative Disziplin. Zugleich wies er der Religionswissenschaft zwei Arbeitsweisen zu. Die historische Religionswissenschaft, die sich mit der Geschichte und Entwicklung der Religionen von ihren Anfängen bis in die Gegenwart beschäftigt (diachrone Vorgehensweise), sowie die systematische Religionswissenschaft, die die Aufgabe hat, Begriffe und Kategorien zu bilden und ähnliche Phänomene verschiedener Religionen miteinander zu vergleichen (synchrone Vorgehensweise). Während sich diese Zweiteilung in zwei Hauptaufgabengebiete weitgehend durchgesetzt hat, ist die Abgrenzung zwischen Theologie und Philosophie einerseits und Religionswissenschaft andererseits bis in die Gegenwart hinein Gegenstand des wissenschaftlichen Diskurses.
Nachdem in der Anfangszeit religionsphilosophische und historisch-philologische Fragestellungen Hauptgegenstände der Religionswissenschaft waren, rückten in der "Religionsphänomenologie" systematisch-vergleichende Fragestellungen von 1920 bis Mitte der 60er Jahre in den Vordergrund. Sie wurde vornehmlich von Religionswissenschaftlern mit theologischem Hintergrund betrieben (Nathan Söderblom, Rudolf Otto, Gerardus van der Leeuw, Friedrich Heiler, Gustav Mensching) und war dadurch geprägt, dass man das Wesen der einen "Ur-Religion" hinter den verschiedenen "Erscheinungsformen der Religion" zu entdecken versuchte (vgl. Friedrich Heiler: Erscheinungsformen und Wesen der Religion, Stuttgart 1961) und meinte mit Begriffen wie z. B. "Das Heilige", "Das Numinose", "Die Macht" eine Terminologie gefunden zu haben, die alle Religionen umfassend beschreiben kann.
Gegen diesen wissenschaftlichen Ansatz erhob sich seit den 60er Jahren starke Kritik, die auch heute noch den wissenschaftlichen Diskurs bestimmt. Man wirft der Religionsphänomenologie vor, dass ihre Begriffe und Kategorien oft nicht dem Selbstverständnis der Religionen gerecht wurden und dass die Kategorien westlich-christlich geprägt waren. Man lehnt den Entwicklungsgedanken ab, dass es so etwas wie eine "Ur-Religion" gegeben hätte, die allen Religionen zugrunde liegt. Man lehnt die Wertungen ab, die mit dem Entwicklungsgedanken bei den Religionsphänomenologen oftmals verbunden waren ("Primitive Religionen" - "Hochreligionen") und die andere Religionen oftmals nur zu Vorstufen und Durchgangsstadien zum Christentum reduzierten. Nicht zuletzt kritisiert man, dass die substantialistischen Definitionen dessen, was Religion ist, nicht tragfähig sind und dass die Einbeziehung der eigenen religiösen Erfahrung den Blick auf die Religionen nicht eröffnet, sondern verstellt.