Glaube als Gewissheit – Ludwig Wittgensteins Hermeneutik der Lebenswelt

PhD-Projekt Tony Pacyna

Die Hypothese der PhD-Arbeit ist, dass Wittgenstein bereits im Frühwerk - dem Tractatus logico-philosophicus (TLP) - eine Hermeneutik der Lebenswelt anlegt.

In der Unterscheidung von sagen und zeigen referier Wittgenstein nicht auf zwei Seiten einer Medaille, sondern beide sind immer schon gleichzeitig im Satz vorhanden: mit dem expliziten Aussagen eines Sachverhalts zeigt sich zugleich deren Wahrheit. Wahr sind Sätze, wenn sie das, was sie sagen, auch abbilden. Worte repräsentieren also keine Gegenstände, sondern bilden die Welt ab, wie es sich verhält. Es ist nach Wittgenstein die Aufgabe der Logik, eben diesen Sachverhalt wahrheitsgemäß abzubilden.

Ein Satz wird zum ‘Bild der Wirklichkeit’, der einen Sachverhalt beschreibt, indem er ihn abbildet. (TLP 4.016–4.021) Abgebildet wird ein Sachverhalt im Satz durch die logische Form. Logik ist für Wittgenstein im Tractatus nicht synthetisch (wie bei Kant), sondern lediglich apriori, aber nicht transzendent, sondern transzendental - also nicht außerhalb des Bereichs möglicher Erfahrung, sondern Erfahrungskonstituierend, ohne aber durch die Erfahrung überprüfbar zu sein.

Mit der Analyse der Sprache will Wittgenstein also in der Sprache dem Ausdruck der Gedanken eine Grenze ziehen (cf. Vorwort TLP) - also wiederum der Sprache. Wittgensteins Kritik richtet sich demnach an den - aus seiner Perspektive gegenwärtigen - Gebrauch der Sprache, indem er diese analytisch/logisch untersucht, um zu zeigen, was sich sagen lässt und was nicht. Er diagnostiziert die Krisis seiner Zeit. Diese These führt ihn im Tractatus noch zu dem Urteil, dass das, was sich nicht aussagen lässt, Un-sinn ist, also nicht Sinn haben kann - sich also nicht sinnvoll aussagen lässt.

Aufgrund der transzendentalen Funktion der Logik ist es das Wesen der Sprache vermittels der logischen Form abzubilden, wie es sich verhält. Damit ist die Logik keine Lehre, wie Wittgenstein betont, sondern ein Spiegelbild der Welt. (TLP 6.13) Wenn die Logik allerdings ein Spiegelbild der Welt ist, dann ist sie kein Abbild der Welt, denn als Spiegelbild kann die Logik die Welt nicht abbilden, ohne dass die Welt positiv vorhanden ist. Ein Abbild hingegen kann allein existieren, bspw. Vincent van Goghs Landschaft mit Pferdewagen und Zug im Hintergrund kann man sich als Abbild der von ihm gemalten Landschaft an die Wand hängen, ohne dass die auf dem Gemälde abgebildete Landschaft ebenfalls präsent im Wohnzimmer sein muss. Die Welt allerdings ist je auch präsent im Satz. Anders formuliert: im Satz zeigt sich anhand der logischen Form das Weltbild des sprechenden Ich.

Doch ist es eben gerade nicht die empirische Weltanschauung des physikalisch-technischen Zeitalters der Aufklärung, von der Bultmann spricht. (Rudolf Bultmann: Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden? In: Ders.: Glaube und Verstehen. Band I. Tübingen 1933. S. 26–37)

Wittgenstein zielt also nicht darauf, das Erkannte in der Wirklichkeit seiner Leser zu lokalisieren und zu beschreiben. Bereits im Tractatus besteht die Welt lediglich aus möglichen Sachverhalten. „Das Bestehen und Nichtbestehen von Sachverhalten ist die Wirklichkeit“ schreibt er im TLP 2.6. Auf die Wirklichkeit können wir demnach nicht zugreifen. Sie ist die uns zugrundeliegende Konstitutionsform. Wittgenstein zielt demnach keineswegs auf eine Erklärung der Welt. Er will unsere Sprache von Metaphysik befreien, weil diese Praktiken und Inhalte unberücksichtigt lässt. Wittgenstein zielt auf eine interne Relation von Denken und Sprechen, von Schreiben und Text, von Welt und Leben – Form und Inhalt. (Cf. Genia Schönbaumsfeld: A Confusion of the Spheres. Oxford 2007. Cf. Søren Kierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Bemerkungen. Gütersloh 1988)

Exemplarisch wird in Wittgensteins Spätwerk das religiöse Bild: religiöse Äußerungen in Gleichnissen oder Metaphern stellen für Wittgenstein kein kognitiv-lehrhaftes Verständnis dar. Vielmehr liegt im Gebrauch religiöser Bilder die Aufforderung, das eigene Leben zu überprüfen und eine bestimmte Art der Lebensgestaltung anzustreben. Inhaltlich ist diese allerdings nicht an eine bestimmte Art der Lebenspraxis gebunden, sondern an die je eigene. Wittgensteins Schreibstil ist daher auch eher indikativisch aufzufassen, indem er weniger erklären will als aus verschiedenen Perspektiven die Wahrnehmung des Lesenden anzuregen sucht, damit dieser seine ihm zugrundeliegende Wirklichkeit erkennt und sein Leben daran anpasst. Es gilt also, die eigene Lebenswelt verstehen zu lernen: eine Hermeneutik der Lebenswelt.

Kurzvita

Tony Pacyna studierte von 1999–2004 Musikwissenschaft und Englisch an der Martin-Luther-Universität Halle und von 2005–2011 Philosophie, Religionswissenschaft und Germanistische Literaturwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; 2012–2014 Promotion in Philosophie an der Universität Zürich (Am Ende bleibt das 'Durcheinander' - die Sprachspiele der New Atheists); von 2012–2015 Lehrbeauftragter an der Universität Tübingen und von 2015–2016 Lehrbeauftragter und anschließend bis 2018 wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie der Universität Heidelberg; außerdem war er von 2016–2018 Koordinator des Projektes Verkörperung als Paradigma einer evolutionären Kulturanthropologie; seit Oktober 2018 ist er Doktorand am Lehrstuhl für Systematische Theologie und Religionswissenschaft in Wien (Prof. Dr. Christian Danz).