The Sephardic Jews of Vienna - A Jewish Minority Crossing Borders
Dissertationsprojekt Martin Stechauner
Abstract
In seinem Dissertationsprojekt beschäftigt sich Martin Stechauner mit einer der kleinesten und zumeist kaum wahrgenommen jüdischen Gemeinden des Habsburgerreiches, nämlich jener der sephardischen (‚spanischen’) bzw. ‚türkisch-israelitischen’ Juden in Wien. Ihre Gemeinde wurde im frühen 18. Jahrhundert von jüdischen Kaufleuten aus dem Osmanischen Reich gegründet. Diese wiederum waren Nachfahren jener Juden, die 1492 von den katholischen Königen aus Spanien vertrieben worden waren.
Aus einer Reihe von Gründen zählte die Sephardische Gemeinde Wiens zu den sicherlich außergewöhnlichsten religiösen Minderheitengruppen im späten Habsburgerreich, das im Allgemeinen eher mit dem Geltungsbereich des aschkenasischen (‚deutschen’) Judentums assoziiert wird. Obwohl Wien etwa zwei Jahrhunderte lang sephardischen Juden zur Heimat wurde, blieben die meisten noch bis ins früher 20. Jahrhundert hinein loyale Untertanen des osmanischen Sultans. Trotz der engen Verbindungen zum osmanischen Reich – zumindest auf einer repräsentativ-diplomatischen Ebene – wurden die Wiener Sepharden stark von den vorherrschenden Diskursen ihrer unmittelbaren Umgebung beeinflusst. Diese wurden vor allem von der Haskalah (der deutsch-jüdischen Aufklärung), ihrem späteren Ableger der Wissenschaft des Judentums, dem liberalen Fortschrittsgedanken und später auch vom aufkeimenden Zionismus bestimmt. Im 19. Jahrhundert zog es immer mehr sephardische Einwanderer vom Balkan nach Wien, einer Stadt die auch als „Sefarad an der Donau“ bekannt wurde. Das Anwachsen der Gemeinde schuf die Grundlage für die Herausbildung einer eigentümlichen sephardischen Kultur, die stark vom kulturellen und intellektuellen Milieu der Stadt geprägt war, was Wien wiederum zum Zentrum der sephardischen Haskalah (der sephardischen Aufklärung) avancieren ließ.
Trotzt des steigenden akademischen Interesses an den sephardischen Gemeinden im Habsburgerreich im Laufe der letzten Jahre, haben sich die bisherigen Studien über die Wiener Sepharden fast ausschließlich mit ihrer Geschichte, ihrer Literatur und den linguistischen Besonderheiten ihrer Sprache beschäftigt. Diese Studie allerdings möchte jedoch aufzeigen, dass eine tiefgreifende Analyse der sephardischen Gemeinde Wiens – besonders in Bezug auf ihre Migrationsgeschichte und den Kulturtransfer, dem sie unterworfen war – auch wertvolle Einsichten über die Konstruktion ethnisch-religiöser Minderheiten unter transnationalen Gesichtspunkten bietet.
In Anbetracht des transnationalen bzw. trans-imperialen Umfelds, in dem die sephardische Gemeinde Wiens entstand und sich entwickelte, richtet diese Studie ihr Hauptaugenmerk auf die sephardischen Druckwerke, die im der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Wien verlegt wurden. Zu den wichtigsten Primärquellen dieser Studie zählen Zeitungen in Judezmo (auch bekannt als Judenspanisch oder Ladino), die zwischen den 1860er und 1880er Jahren in Wien herausgegeben wurden. Obwohl diese in Wien erschienen, wurde die lokale judenspanische Presse nicht ausschließlich in Wien gelesen. Vielmehr war diese für eine wesentlich größere Leserschaft bestimmt und zirkulierte auch in anderen sephardischen Gemeinden, weit über Grenzen des Habsburgerreiches hinaus, vor allem im zusehends zerfallenden osmanischen Reich und in den neu entstandenen Nationalstaaten am Balkan. Eben aus diesem Grund wirft die gründliche Analyse der judenspanischen Presse in Wien interessante Fragen über die Konstruktion sephardischer Identität auf, besonders in Bezug auf ihre Entstehung in Wien und zwar über politische und kulturelle Grenzen hinaus bzw. innerhalb eines viel weiter gefassten jüdisch-sephardischen Netzwerks:
Was genau bedeutete es zu einer sephardischen (d.h. jüdisch-osmanischen) Minderheit zugehören, noch dazu in der Hauptstadt des späten Habsburgerreiches? Was waren die kulturellen, religiösen, politischen und linguistischen Auswirkungen im Kontakt mit der lokalen aschkenasischen, sowie mit der deutsch-österreichischen Kultur? Was waren die eigentlichen Grundpfeiler sephardischer Identität in Wien?
Um Antworten auf diese Fragen zu erhalten, wird ein interdisziplinärer Ansatz verfolgt. Konkret kommen mehrere Theorien zur Anwendung, die in Disziplinen wie der Politikwissenschaft oder der Soziologie, sowie in den Cultural Studies bereits häufig angewandt werden (z.B. in Bezug auf Hybridität, kulturelle Hegemonie, situational identities und Kulturtransfer). Eine interdisziplinäre Herangehensweise ist hilfreich, wenn nicht sogar notwendig, um die Entstehung ethnisch-religiöser Minderheiten in einem spezifisch multi- bzw. transnationalen Setting auf eine angemessene Art und Weise untersuchen zu können.
Der zentrale, analytische Teil der Arbeit wird in vier Arbeitsschritten durchgeführt: Zunächst wird relevantes Quellenmaterial – vornehmlich sephardische Zeitschriften aus Wien – in verschiedenen Archiven in Österreich und Israel zusammengetragen und kopiert. Dies umfasst Zeitungen wie beispielsweise El Nasional und El Koreo de Viena (sowie dessen Beilagen Tezoro de la Kaza und La Polítika), zwei der wichtigsten Judezmo-Periodika, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Wien herausgegeben wurden. In einem zweiten Schritt wir das Material auf seine Inhalte überprüft und für weitere Analysen ausselektiert. In einem dritten Schritt wird das ausgewählte Quellenmaterial von Rashi-Schrift (einer modifizierten hebräischen Schriftart, die üblicherweise für sephardische Drucke verwendet wurde) in lateinische Schrift übertragen. Eine systematische Transkription dieser Texte erleichtert nicht nur die eigentliche Analyse, sonders macht diese Texte auch Lesern zugänglich, die weder Rashi noch hebräische Schriftzeichen lesen können. Zu guter Letzt werden der narrative Inhalt der selektierten und transkribierten Texte mit Hilfe von inhalts- und diskursanalytischen Methoden untersucht. Die Vorzüge und Schwächen dieser Methoden werden eingangs im Detail erörtert.
Diese Studie stellt nicht nur einen maßgeblichen Beitrag zur Erforschung des habsburgisch-österreichischen Judentums dar, sie liefert auch wichtige Ergebnisse für die sephardischen Studien im Allgemeinen, sowie für die Religionswissenschaft, besonders was die Konstruktion ethnisch-religiöser Identitäten innerhalb spezifisch transnationaler Netzwerke betrifft. In dieser Hinsicht liefert die Studie auch einen wichtigen Beitrag für die Migrations-, Diaspora- und Minderheitenforschung, nicht nur im österreichischen Kontext, sondern auch auf europäischer Ebene.
Wissenschaftlicher Mitarbeiter
Martin Stechauner studierte Religionswissenschaft (Individuelles Diplomstudium) an der Universität Wien. Von 2013 bis 2015 war er Doctoral Research Fellow am Centre for Austrian Studies der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seit 2014 führt er sein Doktorat im Rahmen eines Co-tutelle de Thèse zwischen der Universität Wien (Institut für Religionswissenschaft) und der Hebräischen Universität in Jerusalem (European Forum) durch, das von Prof. Wolfram Reiss (Univ. Wien), Prof. David Bunis (Hebr. Univ.) und Dr. Michael Silber (Hebr. Univ.) betreut wird. Zwischen 2015 und 2018 war Herr Stechauner DOC-Fellow der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).
Zeitraum
Oktober 2014 bis Juni 2019